Tagungsbericht: “Das Ganze im Fragment. Zerstörte und wiederentdeckte Schätze aus kirchlichen Bibliotheken, Archiven und Museen”

Ordensgeschichte 2015-12-22

Christian Malzer / Jiří Petrášek.

Am 27. und 28. November 2015 fand auf Einladung der Altbestandskommission der Arbeitsgemeinschaft Katholisch-Theologischer Bibliotheken und des Verbandes kirchlich-wissenschaftlicher Bibliotheken in Zusammenarbeit mit der Theologischen Fakultät Fulda und dem Institut Bibliotheca Fuldensis die Fachtagung „Das Ganze im Fragment: Zerstörte und Wiederentdeckte Schätze aus kirchlichen Bibliotheken, Archiven und Museen“ statt. Im Zentrum der Veranstaltung standen Handschriftenfragmente jeglicher Art sowie ihre Überlieferung, fachgerechte Erschließung und Verzeichnung. Am Beispiel ausgewählter Projekte und Forschungsvorhaben aus Bibliotheken, Archiven und Universitäten wurden zudem konkrete Hilfestellungen zur Identifizierung sowie Aspekte der didaktischen Aufbereitung dieser Quellengattung vermittelt. Die Tagung war Bestandteil eines Modellprojektes der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts mit dem für 2015 ausgerufenen Themenschwerpunkt „Vergessene Kostbarkeiten“ und wurde mit Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und der Kulturstiftung der Länder finanziert. Die erste Etappe des Modellprojektes ist zudem die gleichnamige Wanderausstellung, die am 20. Oktober 2015 in der Martinus-Bibliothek Mainz der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.

Den Auftakt der Tagung bildete am 27. November zunächst ein gemeinsames Mittagessen aller Teilnehmer. Im Anschluss daran leiteten der Rektor der Theologischen Fakultät Fulda, Herr Professor Dr. Dr. Bernd Willmes, und Frau Dr. Alessandra Sorbello Staub, Direktorin der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars Fulda, im Auditorium maximum der Theologischen Fakultät den fachlichen Teil der zweitägigen Veranstaltung ein. Während Willmes aus Sicht der Theologie anhand des Beispiels der Schriftrollenfunde von Qumran auf die Bedeutung von Fragmenten für einzelne Wissenschaftsdisziplinen verwies, erläuterte Frau Sorbello Staub den aktuellen Forschungsstand und Trend hin zur Fragmenterforschung, was sie durch Verweise auf verschiedene aktuelle Tagungen und Publikationen zum Thema belegte.

Die Fachreferate wurden dann durch Dr. Armin Schlechter (Speyer) mit dem weitgefassten Vortrag „Fragmente – Vorkommen, Erschließung, Konservierung“ eröffnet, in dem er einen grundlegenden Einblick in die Verbreitung, Terminologie und Zugänge zur Bearbeitung von Fragmenten bot. Als wesentliche Punkte betonte Schlechter das – nötigenfalls auch redundante – Beschriften der Fragmente und Trägerstücke, um den Überlieferungszusammenhang zu bewahren sowie das Hineinversetzen in die Arbeitsweise der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Buchbindereien, um die Überlieferungsbildung von Fragmenten zu verstehen. Der Quellenwert von Bruchstücken übersteige deren inhaltlichen Wert auch dadurch, dass sie durch ihren Überlieferungskontext u.a. Einblicke in die zu bestimmten Zeiten als überholt geltenden Wissenswelten zuließen. Zudem würden in situ erhaltene Fragmente mitunter auch Einblicke in die praktische Arbeitsweise der Buchbinderwerkstätten ermöglichen, weshalb es nicht immer sinnvoll sei sie von den Trägerbänden abzulösen. Vielmehr müsse hier stets zwischen dem dadurch ermöglichten Mehrwert für die Forschung und pragmatischen Aspekten des Kontext- und Materialerhalts abgewogen werden.

An diese Ausführungen knüpften mit einem konkreten Arbeits- und Erfahrungsbericht Dr. Bettina Wischöfer und Dr. Konrad Wiedemann (Kassel) an. Unter dem Titel „Einbandfragmente in Pfarrarchiven aus Kurhessen-Waldeck finden und digital erschließen – Ein Projekt des Landeskirchlichen Archivs Kassel“ lieferten die beiden Referenten nicht nur anschauliche Einblicke in die Erhebung von Fragmenten in der parochialen Überlieferung, sondern auch einen Überblick über moderne Hilfsmittel, wie Datenbanken und Nachschlagewerke zur Identifizierung und Klassifizierung von Fragmenten sowie praktische Bemerkungen zum Umgang mit dieser Quellengattung. Im Zentrum des Vortrags standen die Ergebnisse einer zwischen den Jahren 2003 und 2007 durchgeführten Fragebogenaktion in den Pfarreien des Untersuchungsraumes und deren Sichtung und Auswertung bis zum Jahr 2015. Dadurch wurden u.a. statistische Einblicke in die Überlieferung von Fragmenten nach deren Datierung möglich. In einem dritten Schritt stehe nun noch der Gang in die nicht auf die Fragebögen antwortenden Pfarrarchive an.

Dem Thema der makulierten Bibliothek „Methodisches zu den Fragmenten Fuldaer Handschriften in Archiven und Bibliotheken in Hessen und weltweit“ wandte sich Dr. Johannes Staub (München/Fulda) zu. Anhand der unter Hrabanus Maurus enorm erweiterten und im Dreißigjährigen Krieg verlorenen Bibliotheksbestände von Fulda skizzierte er die Bedeutung der Fragmentforschung zur Bestandrekonstruktion einer der bedeutendsten Bibliotheken des fränkischen und ottonischen Reiches. Nach einem fundierten forschungsgeschichtlichen Überblick zu dieser Institution diskutierte er eine Reihe weicher und harter Argumente zur Zuordnung von Fragmenten zum Herkunftsort Fulda. Als wichtige Erkenntnis präsentierte Staub zudem neue Belege für eine im Kloster Fulda tätige Buchbinderwerkstatt und formulierte als Projektziel die virtuelle Rekonstruktion der frühmittelalterlichen Bibliotheksbestände dieser Abtei.

Fragmenten aus dem Fachbereich der Iuridica wandte sich anschließend Professor Dr. Ludger Körntgen (Mainz) zu. Ausgehend vom Beispiel der frühmittelalterlichen Stammesrechte – konkret der Leges Visigothorum – und ihrer Edition in den Monumenta Germaniae Historica stellte er grundlegende Überlegungen zum Thema „Fragmente aus der Sicht der (kirchen-)rechts­geschichtlichen Forschung“ an. Im Zentrum seiner Überlegungen stand dabei die Überlie­ferungs­problematik der frühmittelalterlichen Stammesrechte und deren hochgradiger Rekonstruktion, bei der oftmals auch kleinste Fragmente und Palimpseste die Quellenbasis massiv erweitern können. Daher könne es durchaus sinnvoll sein derartige Kleinstfragmente von ihrem Träger zu lösen, um deren rückseitigen Text erfassen zu können. Eine ähnliche Konstellation zeigte der Referent auch anhand des Beispiels der frühmittelalterlichen Bußbücher und ihrer Überlieferung sowie anhand der Urheberfrage der pseudo-isidorischen Fälschungen auf. Die Chance auf Neufunde frühmit­telalterlicher Texte bestehe im Bereich der juristischen Quellen heutzutage nahezu ausschließlich in Fragmenten, da selbst kleinste Textpassagen zentrale Ergänzungen der schmalen Überlieferung erbringen könnten.

Einen Einblick in die reichhaltige Überlieferung der Fragmenta Hebraica gewährte Professor Dr. Andreas Lehnardt (Mainz) unter dem Titel „Jüdische Handschriftenreste in kirchlichen Archiven und Bibliotheken“. Dabei berichtete er anhand von Beispielen aus verschiedenen Bundesländern nicht nur von etlichen Neufunden, sondern auch von ganz pragmatischen Problemen und Herausforderungen seines umfassenden Katalogisierungsprojekts, das im nächsten Jahr im Druck erscheinen soll. Dabei betonte Lehnardt, dass bei derartigen Großprojekten nie absolute Vollständigkeit erreicht werden könne und daher eine pragmatische Einstellung zu bewahren sei und daher trotz steter Neuentdeckungen ein Abschluss und eine umfassende Publikation elementar seien, um darauf dann weitergehende Forschungen stützen zu können. Als wichtige Erkenntnis seiner Arbeit hob Lehnardt hervor, dass auch hebräische Schriften ähnlichen Recyclingprozessen unterworfen waren, wie lateinische oder deutsche Texte. Dabei agierten Jüdische Buchbinder aber offenbar zurückhaltenden als ihre christlichen Berufsgenossen. Das Fehlen bestimmter Fachgattungen (z.B. medizinischer Texte) unter den hebräischen Fragmenten erklärte der Referent v.a. durch deren kleinere Seitenformate, weshalb sie sich weniger als Einbandmakulatur eigneten. Darüber hinaus sprach Lehnardt auch das Sprachproblem der Datenbank der Nationalbibliothek von Jerusalem an, was eine bessere Vernetzung europäischer und israelischer Forschungsergebnisse erschwere.

Den Abschluss des ersten Tages bildete der öffentliche Abendvortrag von Professor Dr. Michael Allen (Chicago). Dieser sprach in feierlichem Rahmen mit musikalischer Untermalung „Zum Nachleben Einhards anhand eines Seligenstädter Fragments“ und entführte die Zuhörer mit einem lebhaften Vortrag in die Wissensnetzwerke des 9. Jahrhunderts und deren Überlieferung, die inzwischen über ganz Europa verteilt ist. Anhand zahlreicher Handschriften und Fragmente erschloss er als „Sinnsuchender“ Einhards Nachleben im Kontext des Mönches Lupus. Dabei erläuterte Allen wie eine Nebenbemerkung in einem frühmittelalterlichen Briefwechsel eine bedeutende Schlüsselrolle bei der brillanten sprachwissenschaftlichen Analyse spielte, die nicht nur für die Geschichte der Fuldaer Bibliothek, sondern auch für die Geschichte der europäischen Wissenskultur neue Informationen erbrachte.[1] Anschließend wurde von der Theologischen Fakultät noch zum Empfang geladen.

Den Samstag eröffnete Frau Dr. Anette Löffler (Frankfurt) mit einem systematisierenden Vortrag zur „Identifizierung und Einordnung liturgischer Fragmente“, in dem sie auf die spezifischen Probleme und Hilfsmittel zur Erschließung von Bruchstücken liturgischen Schriftguts hinwies. Ausgehend von mehreren konkreten Textbeispielen aus dem Umfeld des Deutschen Ordens erläuterte sie, dass auch die oftmals unterschätzten liturgischen Fragmente erhebliche Erkenntnisgewinne erbringen können. Anhand der zwei wesentlichen Gruppen von Liturgica, den Fragmenten des Messdienstes und denen des Chordienstes, zeigte die Referentin auf, dass gerade die Bruchstücke dieser Kategorien enorm viele Hinweise auf ihre Identität und Gattungszugehörigkeit enthalten. Nach Aussage der Expertin sei mit Hilfe der Datenbank „Cantus: A Database for Latin Ecclesiastical Chant“ selbst bei kleinsten Textbausteinen eine Zuordnung möglich. In der anschließenden Diskussion wurde durch das Publikum die Bedeutung einer raschen Publikation des dargebotenen systematisierenden Zugangs zu dieser Art von fragmentarisch tradiertem Schriftgut zum Ausdruck gebracht.

Einblicke in ein universitäres Projekt mit studentischer Beteiligung gewährte Caroline Schärli, M.A. (Basel), die über das Thema „Mittelalterliche Basler Choralfragmente im Licht der Musik- und Kunstwissenschaft“ referierte und den zugehörigen Begleitband mit dem Titel „Ein Kleid aus Noten“ präsentierte. Dieser wurde in seinem Layout bewusst an die Ästhetik mittelalterlicher Handschriften und Seiteneinteilungen angelehnt und spiegelt den kunstgeschichtlichen Zugang der Projektträger wieder. Im Zentrum stehen neben den studentischen Essays zu einzelnen fachlichen Aspekten die professionellen Fotografien der Archivalien mit den sie umhüllenden Fragmenten. In ihrem Vortrag stellte Schärli die zahlreichen als Einbandmakulatur verwendeten liturgischen Handschriftenfragmente Basler Provenienz aus kunstgeschichtlichen und musikwissenschaftlichen Blickwinkeln vor. Den Umstand, dass gerade die Choralhandschriften in Basel in großem Umfang für seriell geführte Quellen genutzt wurden, führte die Referentin auf das große Format der Handschriften zurück, die sich bestens zur Einbandverstärkung eigneten.

Einen anderen Blickwinkel skizzierte Professor Dr. Eef Overgaauw (Berlin) in seinem Vortrag mit dem Titel „Die Katalogisierung von Handschriften und Handschriftenfragmenten in der Staatsbibliothek zu Berlin“. Im Gegensatz zu den vorausgehenden Referaten, die v.a. die Perspektive der Wissenschaftler und Forschung als Ausgangspunkt zum Umgang mit Fragmenten vorstellten, widmete sich Overgaauw der Thematik aus bibliothekarischer Sicht. Als konkretes Beispiel ging er von der Situation der Staatsbibliothek Berlin aus, die die zweitgrößte Handschriftensammlung Deutschlands besitzt. Nach einem geschichtlichen Abriss zur Bibliothek und Bestandsentwicklung wandte er sich den Fragmenten zu, die in Berlin über alle Bestände verteilt und in diese integriert in den Dienstkatalogen erfasst wurden. Er verwies dabei auf die wichtigen Arbeiten von Valentin Rose und Hermann Degering, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entstanden. Lediglich kleinere Fragmente wurden in Berlin bis in die 1930er Jahre nicht berücksichtigt und erst seit 1934 eine eigene Bestandsgruppe Fragmente geschaffen, die in der Zeit der deutschen Teilung in zwei Serien (Ostdeutschland: Fragmente; Westdeutschland: Fragmenta varia) weitergeführt wurden. Nach der Wiedervereinigung und seit 1997 werden die Fragmente der Staatsbibliothek wieder unter einem Bestand geführt. Zum Abschluss betonte Overgaauw, dass es aus bibliothekarischer Sicht wichtig sei bei der Fragmentverzeichnung ein richtiges Maß zwischen dem betriebenen Aufwand und Detailgrad sowie dem Mehrwert und Nutzen zu finden. Daher reichen seines Erachtens die bisher gültigen DFG-Richtlinien völlig aus. Begrüßenswert und ohne essentiellen Mehraufwand sei jedoch eine parallel zur Verzeichnung durchgeführte Digitalisierung der Fragmente.

In einem abschließenden Beitrag mit dem Titel „Das Ganze im Fragment. Zur Wanderausstellung über Fragmente in kirchlichen Bibliotheken und Archiven“ gewährte Dr. Christoph Winterer (Mainz) Einblicke das Ausstellungsprojekt. Anhand ausgewählter Stellwände und Exponate erläuterte der Kunsthistoriker das didaktische Konzept hinter der Ausstellung, die in den nächsten Monaten neben Mainz auch in Stuttgart, Paderborn und Fulda zu sehen sein wird. Einen wesentlichen Teil seiner Ausführungen nahm dabei die Aufarbeitung des Begriffes fragmentum ein, der nach dem Johannes-Evangelium (Joh 6,12) ursprünglich Essensreste bezeichnet und erst später – u.a. von Francesco Petrarca in einen Brief an Kaiser Karl IV. – mit Bezug auf Texte und Schriftprodukte umgewertet wurde. Als weitere Aspekte, die auf Stellwänden thematisiert werden, sprach Winterer die Bedeutung von Palimpsesten, Provenienzerschließung sowie die Zusammenführung von Fragmenten an. Zudem machte er auf einige Exotica der Mainzer Bestände und die Möglichkeiten der datenbankgestützten Identifizierung selbst kleinster Textfragmente aufmerksam.

Am Ende der zweitägigen Fachtagung verwies Frau Dr. Sorbello Staub abschließend nicht nur auf den regen Zuspruch zur Tagung, sondern auch auf die geplante Begleitpublikation, die zeitnah erscheinen soll. Zudem ermunterte sie alle Teilnehmer auch in den nächsten Jahren dem Thema treu zu bleiben und in zwei Jahren zu einer Folgeveranstaltung wieder in Fulda zusammenzukommen. Außerdem fasste sie zwei zentrale Anliegen zusammen, die an den beiden Tagen mehrmals angesprochen wurden: Zum einen müssten Fragmente nicht nur gesammelt und erschlossen, sondern im Idealfall auch gleich digitalisiert werden. Hier besteht die Hoffnung, dass einmal eine umfassende europäische Datenbank realisiert würde, dank derer die unterschiedlichen Schriftstücke nicht nur erfasst und recherchierbar werden, sondern auch zusammengehörende Fragmente wieder miteinander verknüpft werden. Zum anderen könnte eine systematische Erforschung dieser Quellengattung die Kultur-, Rechts- sowie Religionsgeschichte vor allem des Frühmittelalters erweitern.

[1] Siehe dazu auch Allen, Michael I.: Aus fuldischen Handschriften: Aus Einhards Lebensabend und Consolatio Philosophiae III. Ein Seligenstädter Boethius-Fragment mit lateinischen und althochdeutschen Glossen, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 66 (2014), S. 343-377.