Europäische Geschichtskulturen um 1700: Vortrag der Herausgeber bei der Buchpräsentation am 29. Juni 2012

Frobenius Forster 2013-10-30

Europäische Geschichtskulturen um 1700 zwischen Gelehrsamkeit, Politik und Konfession, hg. v. Thomas Wallnig, Thomas Stockinger, Ines Peper und Patrick Fiska, Berlin/Boston 2012 (Inhaltsverzeichnis)

Der Band zur Tagung „Historia’ als Kultur. Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung um 1700 zwischen Gelehrsamkeit, Politik und Konfession“, die im September 2010 in Wien stattfand (Tagungsbericht), wurde kürzlich im Historicum der LMU München präsentiert. Eingeladen hatten dazu das Start-Projekt „Monastische Aufklärung und die Benediktinische Gelehrtenrepublik“ am Institut für Geschichte der Universität Wien, der Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte mit Schwerpunkt Spätmittelalter an der Ludwig-Maximilians-Universität München, die Monumenta Germaniae Historica sowie der Verlag De Gruyter. Vorgestellt wurde der Band von Prof. Dr. Claudia Märtl, Dr. Julia Brauch vom Verlag sowie Dr. Thomas Wallnig MAS und Dr. Thomas Stockinger MAS, die auch die beiden anderen Herausgeber Dr. Ines Peper und MMag. Patrick Fiska vertraten. Zugleich wurde an dem Abend die Buchausstellung „Vormoderne Geschichtskultur und historische Gelehrsamkeit“ eröffnet.

Die Herausgeber waren so freundlich, den Text ihres Vortrags bei der Buchpräsentation für dieses Blog zur Verfügung zu stellen:

Vortragstext bei der Buchpräsentation des Bandes “Geschichtskulturen um 1700″, München 29. Juni 2012

von Thomas Wallnig, Patrick Fiska und Thomas Stockinger

Der Vortrag im PDF-Format: Stockinger/Wallnig/Fiska: Vortrag bei der Buchpräsentation “Europäische Geschichtskulturen um 1700″, München 29. Juni 2012

 

[Thomas Wallnig]

Sehr geehrte Damen und Herren!

Mir obliegt in den kommenden zehn Minuten, vonseiten des Start-Projekts „Monastische Aufklärung und die Benediktinische Gelehrtenrepublik“ den Beteiligten an dieser Veranstaltung herzlichen Dank zu sagen und Sie zugleich inhaltlich an den Band, die Buchausstellung und deren Verbindung heranzuführen, eine Verbindung, die dann den Gegenstand der abschließenden Beiträge von Patrick Fiska und Thomas Stockinger bilden wird. Der von Patrick Fiska verfasste Beitrag wird je zur Hälfte von Thomas Stockinger und mir verlesen. Wir zwei sprechen hier auch in seinem Namen sowie dem unserer Mitherausgeberin Ines Peper.

Das vom österreichischen Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung finanzierte Start-Projekt „Monastische Aufklärung“ läuft seit 2008 an der Universität Wien sowie am IÖG. Unser Ziel ist die kritische Edition der gelehrten Korrespondenz der Melker Geschichtsforscher Bernhard und Hieronymus Pez aus den Jahren 1709 bis 1762, zugleich ihre Kontextualisierung in einigen der für den Zusammenhang relevanten Forschungsfelder – monastische Geschichte, Kirchengeschichte, Gelehrsamkeits- und Wissenschaftsgeschichte, und in diesem Zusammenhang zentral: Historiographiegeschichte. Diese verstehen wir einerseits auch als Geschichte der Hilfswissenschaften und der kritischen Geschichtsforschung, als deren Verfechter im katholischen Süden des Reiches die Brüder Pez gehandelt werden; andererseits – dies deutet der Titel unseres Bandes an – kann von der historiographischen Produktion unserer gelehrten Mönche und ihrer Zeitgenossen ebenso auf Formen und Medialisierungen von Erinnerung und Geschichte an sich geschlossen werden. Solch ein kulturalistischer und praxeologischer Zugang zu Geschichtsschreibung und -forschung um 1700 wurzelt in der Sache selbst, wie der Band belegen kann: Geschichte findet sich nicht nur in Folianten, sondern auch in Deckenfresken, Predigten, Theaterstücken, Archivordnungen, Polemiken und Disputen, und oft bedienen sich dieselben Autoren unterschiedlicher literarischer Formen und Medien. Was noch schwerer wiegt, ist der Umstand, dass die Frage nach dem Umgang mit Tradition überhaupt an die Wurzeln des konfessionellen Konflikts in Alteuropa zu reichen scheint: Die Auseinandersetzung um die „richtige“ Geschichte (abseits aller nunmehr obsoleten Ideale einer Objektivität, wie sie dem 19. Jahrhundert lieb war) zeigt sich als eine zentrale Frage politischen Handelns; vielleicht stellt sie, verstanden als Frage nach dem „Umgang mit Tradition“ überhaupt, einen wesentlichen epistemischen Schlüssel dar zur Überwindung der manichäischen Zweiteilung frühneuzeitlicher Gelehrsamkeit in „progressive“ – meist protestantische – und „retrograde“ – meist katholische.

Dass diese Gedankengänge, wie sie in unterschiedlicher Weise in den Beiträgen des Bandes verarbeitet werden, in seinem Nachwort auch von Anthony Grafton aus einer vielleicht distanzierteren Perspektive aufgenommen und weiterentwickelt werden, darf wenn schon nicht als „Fortschritt“, so doch als Ansatz zur nachhaltigen Veränderung bisheriger Narrative bewertet werden.

Der Band folgt, wie die von unserer Arbeitsgruppe im September 2010 in Wien veranstaltete Tagung, einer geographischen Gliederung, die ich mit kurzer Nennung der Autorinnen und Autoren – einige sind, zu unserer großen Freude, heute auch anwesend – durchgehen möchte.

Die ersten Beiträge sind dem katholischen Süden des Reiches gewidmet: Während Alois Schmid sich mit Matthäus Raders „Bavaria Sancta et pia“ befasst, versucht Stefan Benz eine Quantifizierung der katholischen Geschichtsproduktion im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Barbara Lawatsch Melton beschäftigt sich mit der Vita des Hl. Vitalis vom Abt von St. Peter in Salzburg Amand Pachler, der auch im Beitrag von Helga Penz, in dem es um den Zusammenhang von Geschichtsschreibung und Archivordnung geht, eine Rolle spielt. Es folgen die Beiträge von Uta Coburger und Thomas Stockinger zum „kunsthistorischen“ und „gelehrten“ Aspekt der Arbeit von Karl Meichelbeck, während in ähnlicher Weise der Beitrag von Werner Telesko und mein eigener die Melker Situation beleuchten. In dem Abschnitt über Rom und Italien finden sich Beiträge zur kurialen Kirchengeschichte von Bernward Schmidt; von Paolo Aranha zu dem antijesuitischen Polemiker im Malabarischen Ritenstreit, Père Norbert von Bar-le-Duc; von Andreea Badea zu den Konflikten der Bollandisten mit der römischen Zensur; schließlich – um auch den weltlichen Kontext zu berühren – die Abhandlung von Elisabeth Garms-Cornides und Fabio Marri zu Gottfried Philipp Spannagel unter eingehender Berücksichtigung von dessen Korrespondenz mit Lodovico Antonio Muratori. Mit Frankreich und den Niederlanden – wohlgemerkt den südlichen; die nördlichen Niederlande und England kamen uns mit dem Beitrag von Mordechai Feingold leider abhanden – befassen sich die Beiträge von Peter N. Miller, der die Beziehung von Fabri de Peiresc zu den Maurinern untersucht; von Daniel-Odon Hurel, der durch Betrachtung der cluniazensischen Historiographie die maurinische „Monopolstellung“ im Hinblick auf monastische Geschichtsforschung im Frankreich des 17. Jahrhundert deutlich differenziert; von Jean-Louis Quantin, der den Streit von Jansenisten und Anti-Jansenisten um die Deutungsmacht über die Patristik illustriert; von Jan Marco Sawilla, der, nicht nur anhand der Bollandisten, und nicht nur in Auseinandersetzung mit Momigliano, nach der „Historisierung“ von Geschichte im frühen 17. Jahrhundert fragt; schließlich von Mark Mersiowsky, der die Auseinandersetzung zwischen Germon und Mabillon um des Letzteren Diplomatik als gelehrte und zugleich literarische Inszenierung beschreibt. Den Abschluss bilden Beiträge zu evangelischen Reichsteilen – Sven Externbrink über die „Césars“-Edition von Ezechiel Spanheim, Nora Gädeke über Leibniz‘ „gelehrte“ Sammlung von „politisch verwertbaren“ Quellen, Colin Wilder über die mitteldeutsche Rechtsgelehrsamkeit und deren Geschichtsbild – sowie ein Beitrag zu Russland, in welchem Konstantin Kaminskij den Normannenstreit aus der rein „nationalen“ Sicht heraushebt und in einen breiteren gelehrsamkeitsgeschichtlichen Kontext einordnet.

Allen Genannten sei an dieser Stelle noch einmal ebenso herzlich für die gute und effiziente Zusammenarbeit gedankt wie Julia Brauch vom Verlag De Gruyter und unserem Setzer Rainer Ostermann.

Die Idee, eine Präsentation des Bandes mit einer Buchausstellung der MGH zu verbinden, kam von Prof. Mersiowsky, der geholfen hat, die nötigen Rahmenbedingungen herzustellen. Prof. Claudia Märtl in ihrer gegenwärtigen Doppelfunktion als Präsidentin der MGH und Lehrstuhlinhaberin an der LMU hat das Vorhaben ideell und materiell unterstützt, ebenso der Verlag DeGruyter, neben Dr. Brauch auch vertreten durch Ulrike Lippe. Desgleichen haben Prof. Arno Mentzel-Reuters, Bibliothekar der MGH, und Dr. Wolfgang Piereth, Geschäftsführer des „Historicum“, zentral an der Vorbereitung mitgewirkt, konkret durch das Bereitstellen der Bücher und den Aufbau der Ausstellung, ebenso vom hiesigen Lehrstuhl Frau Maximiliane Berger, Frau Franziska Streicher und Herr Dr. Georg Strack.

Die Ausstellung ist so konzipiert, dass Sie zu jedem Beitrag unseres Tagungsbandes ein – altes – Buch vorfinden, das in dem Beitrag an mehr oder weniger zentraler Stelle behandelt wird. In den Erläuterungen zu jedem Buch in der Vitrine finden Sie einen Verweis, oft mit Seite, auf den Beitrag, und da der Tagungsband selbst als liber catenatus direkt anbei vorhanden ist, können Sie gleich nachlesen, was es mit den einzelnen Werken auf sich hat.

Wenn Sie dann neugierig geworden sind, können Sie den Band dann natürlich kaufen, oder ein Rezensionsexemplar anfordern. Damit Sie aber neugierig werden, führen wir Ihnen nun abschließend noch vor, in welch unterschiedlichen Kontexten vormoderner Gelehrsamkeit man Mabillons „De re diplomatica“ und Meichelbecks „Historia Frisingensis“ verorten kann.

[Patrick Fiska]

Beginnen wir mit Mabillons 1681 erschienener wissenschaftlicher Grundlegung der Urkundenlehre. Das vorrangige Anliegen ist zu demonstrieren, welcher Stellenwert diesem von vielen Zeitgenossen als epochal eingeschätzten Werk und seinem Autor in der täglichen Forschungspraxis bei der Auseinandersetzung mit Historiographie- und Gelehrsamkeitsgeschichte um 1700 zukommt. Bereits ein Blick in das Register des Bandes „Europäische Geschichtskulturen“ weist Jean Mabillon als die insgesamt am häufigsten zitierte Person aus: Abgesehen von der Einleitung und Anthony Graftons „Epilogue“ kommt er in 14 von 21 Aufsätzen vor – ohne dass sich die Autorinnen und Autoren abgesprochen hätten.

Ganz im Zentrum steht die Diplomatik des gelehrten Mauriners in Mark Mersiowskys Aufsatz „Ausweitung der Diskurszone um 1700“. Dabei werden zugleich Themen angesprochen, welche die Rezeption auch der anderen Werke Mabillons im Spannungsfeld der Identität unterschiedlicher Orden, der res publica literaria wie auch einer weiteren gebildeten, aber nicht unbedingt wissenschaftlichen Öffentlichkeit betreffen.

Kurz zusammengefasst, wird in diesem Aufsatz der zwischen den Maurinern in St.-Germain-des-Prés und ihren jesuitischen Gegenspielern, Barthélémy Germon sowie den Herausgebern der „Mémoires de Trévoux“, geführte Disput über „De re diplomatica“ in vielschichtiger Weise dargestellt. Mersiowsky analysiert den Diskurs hinsichtlich der wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung von „De re diplomatica“ ebenso wie bezüglich der Gelehrtenbiographie Germons, der religionspolitischen Hintergründe, des Stellenwerts der Illustrationen, der Didaktik und der Medialität der unterschiedlichen Genera – gelehrtes systematisches Quellenwerk versus polemischer Traktat – die sich letztlich auch im Format der Bücher bemerkbar macht.

Auch wird in Mersiowskys Beitrag die frühe Geschichte der Diplomatik um die bella diplomatica und der bisherige Forschungsstand dazu abgehandelt, wobei entscheidende Desiderata angesprochen werden; namentlich erfolgt der Appell, die Geschichte der Diplomatik nach Mabillon und vor dem 19. Jahrhundert nicht außer Acht zu lassen.

Unterhaltsam ist nicht zuletzt die im Aufsatz referierte Reaktion der gebildeten, aber nichtwissenschaftlichen Publizistik auf die Kontroverse in Frankreich. 1708 erschien die „Histoire des contestations sur la diplomatique“ – ein fiktiver Dialog zwischen einem „Abbé“, einem Freund der Mauriner, und einem „Conseiller“, einem Freund der Jesuiten, vor einem Magistrat. Dieser „sieht mit Freude die aufgeheizte Kontroverse“. Am Ende aber will er „kein Urteil fällen, es sei nötig, ein souveränes Gericht anzurufen, das er das ‚Gericht der Öffentlichkeit‘ nennt“; wobei er die Meinung vertritt, „dass literarische Kämpfe sowohl für die Betrachter angenehm wie für den Fortschritt der Wissenschaft nützlich seien. Nie entwickle man mehr Geist als wenn man ein wenig pikiert sei. Der Krieg der Gelehrten bereichere die literarische Welt“ (Mersiowsky, S. 478 und 480).

Eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wird dann offenbar, wenn im katholischen, kurialen Kontext der Indexkongregation das, was andernorts zum reinen Amüsement rezipiert wird, tatsächlich ans Eingemachte geht. Wenn die Urteile der Zensurbehörden vielleicht gerade nicht mehr lebensbedrohlich waren, konnten sie doch schwerwiegende Auswirkungen auf gelehrte Karrieren haben. Die Geschichte der Zensurverfahren ist in dem vorliegenden Tagungsband der Gegenstand des Aufsatzes von Andreea Badea. Dabei geht es um die mögliche Indizierung von Bänden der bollandistischen Acta sanctorum sowie um Mabillons Epistola de cultu sanctorum ignotorum – also um katholische Werke auf dem höchsten wissenschaftlichen Stand der historisch-kritischen Methode und um Vertreter der positiven Theologie.

Eine zentrale Rolle in beiden Kontexten spielte auch Daniel Papebrochs Beitrag für die Entwicklung der Diplomatik in Form seines Propylaeum antiquarium circa veri ac falsi discrimen in vetustis membranis. Dieses Propylaeum war sowohl einer der wichtigsten Ansatzpunkte für Mabillons Diplomatik als auch, wenn auch aus ganz anderen Gründen, Stein des Anstoßes für die Indexkongregation, zumal Papebrochs chronologische Richtigstellungen den Karmelitenorden um ein liebgewonnenes, aber fast zur Gänze auf Fiktionen beruhendes Bild seiner eigenen Vergangenheit zu bringen drohten.

Auf den Aspekt der Historisierung von Heiligenverehrung im Sinne der positiven Theologie, der im Zusammenhang des bei Mabillon angeforderten Gutachtens über den Kult der Sainte Larme von Vendôme zutage trat, und der für das 18. Jahrhundert ein entscheidender neuer Weg der Interpretation werden sollte, weist wiederum Thomas Wallnig in seinem Aufsatz hin: „Mabillon trennte die Legitimität des Kultes von der offensichtlichen Unhaltbarkeit seines Gegenstandes und öffnete ein nur historisch legitimierbares Fenster für falsch begründete religiöse Handlungen, indem er die Reliquienverehrung aus dem Begriff der kirchlichen Tradition heraushob“ (Wallnig, S. 200).

Dass sich Mabillon und Papebroch – über die Ordensgrenzen hinweg – epistemologisch auf einem ähnlichen Niveau bewegten, wird in Mersiowskys Artikel ebenso ausgeführt wie in jenem von Jan Marco Sawilla über die Methoden der Bollandisten. Der Beitrag zum wissenschaftshistorischen Paradigmenwechsel um 1700 durch beide Gelehrte erscheint nach Sawillas Studien durchaus vergleichbar. Entscheidend für die unterschiedlichen Bewertungen und Schlüsse war nicht etwa eine „Hyperkritik“, wie sie Papebroch in der Historiographiegeschichte oft zu Unrecht vorgehalten worden ist, sondern die jeweils verfügbare Quellengrundlage. Papebroch beschrieb gemäß Sawilla das ihm zugängliche – spärliche – Urkundenmaterial „nicht einmal inadäquat“, doch blieb es Mabillon vorbehalten, „anhand zahlreicher Originale ein differenzierteres Bild zu erarbeiten und die diplomatischen Techniken zu systematisieren. Unter seinen Zugriffen wurde das Diplom in seiner Gesamtheit ein ‚epistemisches Ding‘, das dazu gebracht wurde, Aussagen zu tätigen, die nicht im Horizont seiner Verfasser gelegen hatten“ (Sawilla, S. 442).

Im Weiteren kommt Sawilla zu dem Schluss: „In Begriffen der Zeit als altertumskundlich qualifizierte Studien erschlossen also nicht nur historische Materialien und kreierten Techniken, um das Tradierte und Überkommene zu begreifen. Vielmehr trugen sie auch dazu bei, historische Deutungshorizonte zu eröffnen, die sich aus der einfachen Lektüre dieser oder jener historiographischen Darstellung nicht ergeben hätten“ (Sawilla, S. 443).

[Thomas Stockinger]

Ich werde jetzt die Diskussion etwas näher an den Ort dieser Veranstaltung heranführen und auf Rezeption und Fortführung dieser Entwicklungen in Deutschland zu sprechen kommen, die eine höchst vielfältige und in den unterschiedlichsten Milieus beheimatet war. Zu nennen wäre etwa der im Beitrag von Colin Wilder zur Sprache kommende Gießener Rechtshistoriker Nikolaus Hert, der bereits zu Ende des 17. Jahrhunderts an dieser protestantischen Universität Thesen über Urkundenlehre auf Mabillon stützte, ebenso wie einige süddeutsche Benediktiner, deren gelehrte Bestrebungen spätestens seit Ludwig Hammermayer unter dem Begriff eines „deutschen Maurinismus“ firmieren. Speziell für Bayern beziehe ich mich im Folgenden auf einen Historiographen, der zwar keine europäische Berühmtheit war wie Mabillon, es aber doch zu Lebzeiten zu einiger Anerkennung und auch in späterer Zeit zu Erinnerung und Namen zumindest in der regionalen Fachwelt gebracht hat, nämlich den Benediktiner Karl Meichelbeck aus dem Kloster Benediktbeuern. Auch er kommt in mehreren Texten des Bandes vor, zwei sind ihm unter höchst unterschiedlichen Gesichtspunkten gewidmet.

Zentral im Werk Meichelbecks und zentral für seine Wahrnehmung durch Mit- und Nachwelt ist seine vierbändige Freisinger Bistumsgeschichte, die ab 1724 unter dem Titel Historia Frisingensis erschien; der erste Band ist hier in der Ausstellung zu bewundern. In der Historiographiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ist diese Arbeit wiederholt als die erste aus dem katholischen Deutschland bezeichnet worden, welche „die Anforderungen der kritischen Methode erfüllte“; Meichelbeck erscheint aus dieser Perspektive als Vorreiter dieser Methode und damit der Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung in diesem Raum, einer Bewegung, die gerade in den letzten Jahrzehnten oft als kultureller Transfer aus Frankreich gesehen worden ist – daher auch die Konzeptualisierung „deutscher Maurinismus“ – und andererseits mehr oder minder deutlich mit den Anfängen von Frühaufklärung und Rationalismus in dieser Region in Verbindung gebracht wurde. Andreas Kraus sah in seinem klassischen Aufsatz über die „Grundzüge barocker Geschichtsschreibung“ in dieser die Anfänge einer Emanzipation der Geschichte von außerwissenschaftlichen Beweggründen und ihrer Entwicklung zu einer Disziplin, die „sich selbst gehört und nur der Wahrheit dient“. Ohne die Wichtigkeit der Entwicklungen dieser Jahrzehnte in Abrede zu stellen – im Gegenteil ist es ja eine zentrale These des ganzen Bandes, dass in dieser Zeit höchst Wichtiges und Spannendes im Gange war – zeigen Detailuntersuchungen unter neueren Fragestellungen etwa am Beispiel Meichelbeck, dass sich die Dinge komplexer und vielschichtiger verhalten, als sie in solchen Narrativen erscheinen.

Der Beitrag von Uta Coburger geht an die bistumsgeschichtlichen Arbeiten Meichelbecks aus kunsthistorischem Blickwinkel heran und situiert sie in einem Komplex der Repräsentation und Performanz, der zugleich ihre Querverbindungen zu anderen Bereichen kulturellen Schaffens und ihre Eingebundenheit in politische Machtgefüge sichtbar werden lässt. Die Feierlichkeiten zum – historisch gesehen ohnehin etwas willkürlich angesetzten – Millennium des Bistums Freising waren Teil einer umfassenden repräsentativen Strategie des Diözesanbischofs Johann Franz Eckher von Kapfing, die ihrerseits im Rahmen seiner Bemühungen zur Behauptung des Hochstifts gegen die Dominanz der bayerischen Wittelsbacher zu sehen sind. Die seelsorgliche Konsolidierung unter Eckher kontrastierte mit dem Desinteresse seiner wittelsbachischen Vorgänger, die Freising zumeist nur als Versorgungsposten oder als Sprungbrett zu höheren Würden gesehen hatten; es wurde von Eckhers Seite auch selten verabsäumt, diesen Kontrast herauszustreichen. Auch die historiographischen Beiträge Meichelbecks enthalten manche antiwittelsbachische Spitze, bis hin zu einem solchen literarischen Ellbogeneinsatz wie der Feststellung, Freising sei bereits eine „Hauptstadt und Residenz“ gewesen, als München noch „nichts als ein zwischen Sendling und Schwabing entlegnes Bauerngut“ war (vgl. Coburger, S. 107).

Die Publikation der Meichelbeck’schen Bücher – neben der an gelehrte Leser gerichteten lateinischen Historia mit ausführlicher Argumentation und einem gewichtigen Urkundenanhang als unanfechtbarem Schatz an Beweismitteln erschien auch eine weit schlichter gehaltene Kurtze chronica auf Deutsch für ein breiteres Publikum – war Teil eines Programms, das sich von der durch die Brüder Asam erneuerten Innenausstattung des Doms (Meichelbeck lieferte hier die Sujets für den Bilderzyklus über das Leben des Hl. Korbinian) bis zu den Prozessionen und Festpredigten der Millenniumsfeier erstreckte. Die tausendjährige Kontinuität des Bistums und die Gegenüberstellung des Gründers Korbinian mit dem Erneuerer Eckher durchzogen dieses Programm als zentrale Motive. Keines der einzelnen Elemente entstand oder funktionierte unabhängig von den anderen, und keines ist für sich allein vollständig zu verstehen. Dieses Zusammenspiel, das spätere Jahrhunderte als „Gesamtkunstwerk“ oder „Multimedialität“ bezeichnet hätten, beherrschte man auch im Barock auf ausgeklügeltem Niveau; Historiographie funktionierte als Komponente davon.

Dies lässt auch die Vorstellung einer „Emanzipation“ der Wissenschaft durch die Methode in Frage geraten. Wie die neuere Wissenschaftsgeschichte insgesamt bemüht ist herauszustellen, dass sich Methoden eben nicht gleichsam im einem in sich abgeschlossenen Raum entwickeln, sondern stets in Interaktion mit gesellschaftlichen Macht- und Interessenstrukturen, so ist auch die Entwicklung der Arbeitsweise Meichelbecks, der ich in meinem eigenen Beitrag nachzuspüren versuche, nicht ohne Kenntnis seines Umfelds und der Anlässe seiner Forschungen zu verstehen. Die Vorstellung, ein bayerischer Benediktiner habe Mabillon gelesen, sich von der überlegenen inneren Logik von dessen Art, historische Fakten zu rekonstruieren, überzeugt, und sei so zum „deutschen Mauriner“ geworden, bietet uns zumindest nicht die ganze Geschichte; wahrscheinlich ist sie sogar in einzelnen Punkten überhaupt unzutreffend. Meichelbeck hat Mabillon gelesen, das ist nachweisbar; sucht man aber nach weiteren Verbindungen mit den Maurinern, ist das Ergebnis enttäuschend. Im Gegensatz zu seinen Ordensbrüdern in Melk oder St. Emmeram korrespondierte er kaum oder gar nicht mit maurinischen Gelehrten; eine Anlehnung seiner Arbeiten an ihre in Thematik und Aufbau, wie sie bei Bernhard Pez, Gottfried Bessel, Marquard Herrgott oder Jahrzehnte später bei Frobenius Forster und Martin Gerbert hervortritt, ist nicht zu erkennen. Unter seinen Quellen und Vorbildern sind neben jenen Werken eine Reihe anderer häufig benutzter Bücher einzureihen, von der Historia Salisburgensis der Brüder Mezger, worauf Barbara Lawatsch Melton in ihrem Beitrag hinweist, bis zur Paderborner Bistumsgeschichte des Jesuiten Nikolaus Schaten.

Zu jeder der Arbeiten Meichelbecks muss man zudem die – wie die ältere Historiographiegeschichte gesagt hätte – „außerwissenschaftlichen“ Hintergründe in Rechnung stellen, um die Beweggründe, aber auch die Wahl der Mittel zu verstehen. Dies beginnt bei konkreten Rechtsstreitigkeiten Benediktbeuerns, etwa einem Konflikt mit den Augustiner-Chorherren im nahen Schlehdorf um Gebietsgrenzen, den Meichelbeck durch die Auffindung eines hochmittelalterlichen Teilungsvertrags entscheiden konnte; es setzt sich fort über das Repräsentationsstreben Bischof Eckhers und den Widerstand des Freisinger Domkapitels gegen manche historischen Revisionen Meichelbecks; es endet in seinen letzten Lebensjahren mit der Blockade der eigenen Benediktbeurer Mitbrüder gegen eine Veröffentlichung seines letzten Hauptwerks, einer Chronik des Klosters, in deren Urkundenanhang jene eine gefährliche Einladung zur Anfechtung der darin enthaltenen Rechtstitel vermuteten. Meichelbeck war nicht überall ein interesseloser Verfechter einer vermeintlich aus den Quellen leuchtenden historischen Wahrheit; sogar gegenüber dem selbst nicht gerade auf festen Grundlagen der Gelehrsamkeit argumentierenden Freisinger Domkapitel war er etwa mit seinem Ansinnen, Korbinian und dessen Domherren als Benediktiner darzustellen, nach heutigem Kenntnisstand faktisch im Unrecht.

Dies alles ist nicht als Demontage Meichelbecks oder der Historia Frisingensis zu verstehen, eines Werks, dessen stupende Quellensättigung und analytische Schärfe umso mehr beeindrucken, je länger man sich darin vertieft. Auch Narrative wie jenes vom „deutschen Maurinismus“ und seinem Verhältnis zu den Anfängen einer „katholischen Aufklärung“ können und sollen anhand solcher Einzelfallanalysen nicht rundweg bestritten oder in ihr Gegenteil verkehrt werden. Vielmehr geht es um das entschiedene Festhalten dessen, was auf der Tagung, aus der unser Band hervorgegangen ist, mit Daniel-Odon Hurel einer der wichtigsten Experten für die Mauriner zum Thema eines modèle mauriste gesagt hat: „C’est plus compliqué que cela“ – es ist doch ein wenig komplizierter. Wir wissen über die höchst vielgestaltigen Formen historischer Gelehrsamkeit und anderer Arten der Auseinandersetzung mit Geschichte in der Zeit vor der Aufklärung noch deutlich zu wenig, um sie mit ein paar Pinselstrichen in ihrem Wesen darzustellen und in eine Erzählung zu bringen, die schlüssig zur „modernen“, „wissenschaftlichen“ Disziplin der Geschichte hinführt. Zu den überaus dichten Kontakten und Austauschvorgängen über politische und konfessionelle Grenzen hinweg bleiben sehr viele Quellen noch unzureichend bearbeitet. Auch entdecken wir immer wieder ganz neue Aspekte der gelehrten Tätigkeit, die bisher nicht oder kaum beachtet wurden, und haben damit zahlreiche neue Fragen an grundsätzlich schon bekannte Personen, Werke oder Ereignisse heranzutragen. Eine breite Vielfalt dieser Aspekte aufzuschließen und erste Schneisen in Bereiche zu schlagen, die noch einer systematischen Erkundung harren, war das Ziel unserer Tagung und ist der Zweck des nun vorliegenden Buches – und hoffentlich sein Verdienst. Aber das bleibt Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, als kundige Leserinnen und Leser desselben zu beurteilen.

 

Der Vortrag im PDF-Format: Stockinger/Wallnig/Fiska: Vortrag bei der Buchpräsentation “Europäische Geschichtskulturen um 1700″, München 29. Juni 2012