Letzte Handschrift aus Österreich online

Bibliotheca Laureshamensis ‒ digital: Blog 2013-10-31

Ein Lorscher codex discissus zwischen Rheinland, Neckar, Vatikan, Schwarzwald, Lavanttaler Alpen und nun wieder vereint im WorldWideWeb

Mit Cod. 110/6 aus dem Archiv des Benediktinerstifts St. Paul im Lavanttal sind nun alle bekannten Lorscher Handschriften, welche heute in Österreich aufbewahrt werden, in die Virtuelle Klosterbibliothek Lorsch integriert worden. Bei den Fragmentblättern aus Kärnten handelt es sich um das Ende eines Exemplars vom Tonar Bernos von der Reichenau, welches um die Mitte des 11. Jahrhunderts in Lorsch angefertigt wurde und der Oudalricus-peccator-Gruppe zugeordnet wird. Der Hauptteil des codex discissus, der zerteilten Handschrift, wird heute in der Biblioteca Apostolica Vaticana aufbewahrt (Vatikan, BAV, Pal. lat. 1344). Im Rahmen des Projektes konnten die beiden Teile nun mit Hilfe moderner Technik im Internet wieder zusammengeführt werden.

Der Tonar – eine nach den acht Kirchentonarten geordnete Zusammenstellung von Gesängen des gregorianischen Choralrepertoires – des Berno von der Reichenau († 1048) gehört mit seinem musiktheoretischen Prolog zu den meistüberlieferten Musiktraktaten des Mittelalters. Der Lorscher Codex entstand noch zu Lebzeiten des Autors oder nur kurze Zeit später. Über die Heidelberger Bibliotheca Palatina gelangte er 1623 in die vatikanische Bibliothek, wo er im 18. Jahrhundert die Aufmerkamkeit Martin Gerberts erregte. Der Fürstabt von St. Blasien im Schwarzwald (1764-1793) hat durch quellenbasierte historische Forschungen auf dem Gebiet der Kirchen- und Musikgeschichte seinen Namen bis heute bewahrt. Er ging jedoch nicht zimperlich vor und scheute auch nicht davor zurück, Blätter für spätere Studien aus ihrem Codex herauszureißen und unerlaubterweise an sich zu nehmen; seine bleibenden Verdienste gehen nicht allein zu Lasten des Diebstahls der neun Blätter aus dem Lorscher Tonar. Als das Kloster St. Blasien 1806 im Zuge der napoleonischen Umwälzungen aufgelöst wurde, suchte der Restkonvent eine neue Heimat, 1809 fand er mit einigem geretteten Habe, darunter auch einen Teil der Klosterbibliothek, einen Zufluchtsort in St. Paul im Lavanttal im habsburgischen Kärnten.

Ein weiteres Manuskript aus St. Paul im Lavanttal ist der Codex 8/1, der zwar nicht in Lorsch entstanden ist und auch nicht zum Bestand der Lorscher Klosterbibliothek gehörte, aber die sog. Lorscher Annalen – ein karolingerzeitliches Geschichtswerk, dessen Abfassung mit dem Kloster Lorsch in Verbindung gebracht wird – enthält. Ebenfalls digitalisiert wurde er in die Liste der „Weiteren Handschriften“ integriert, die als künftige Forschungsgrundlage die Virtuelle Klosterbibliothek Lorsch ergänzen soll.

St. Paul i. Lavanttal, Stiftsarchiv

Cod. 110/6 Berno Augiensis Tonarius (Fragment) Lorsch, ca. Mitte 11. Jh.

Cod. 8/1 in der Liste „Weitere Handschriften“ Annales Laureshamenses Reichenau, ca. 835