Neu entdeckte Fragmente des Tetrachordum musices
Archiv des Schottenstifts 2022-01-24
Die alltägliche Erschließungsarbeit steckt voller Überraschungen und Zufälle; so auch bei jüngst erfolgten Verzeichnungsarbeiten in der Fragmentensammlung: Bereits 2021 mussten bei der Restaurierung von Cod. 250 die völlig desolaten Deckel ersetzt werden. Diese bestanden aus zu einer Art Kartondeckel zusammenkaschierten Papierblättern, unter denen nach der Auseinanderlösung auch verschiedene Fragmente zum Vorschein kamen. Bei zwei Blättern handelt es sich, wie sich nun herausstellte, um die Blätter F1 und F2 des vom Humanisten Johannes Cochlaeus verfassten Werks Tetrachordum musices.1 Unmittelbare Relevanz für das Schottenstift erhält das Werk durch die Beteiligung Benedikt Chelidonius’, dessen Todestag sich zufälligerweise im gleichen Jahr zum fünfhundertsten Mal jährte. Die aus diesem Anlass noch bis 12. Februar laufende Themenschau „Benedictus Chelidonius: Ein Poet als Abt“ im Museum im Schottenstift widmet sich dem Leben und Wirken dieses bedeutenden Vertreters des Klosterhumanismus und beleuchtet auch seine vielfältigen Beziehungen zu anderen wichtigen Humanisten seiner Zeit. Für das nun fragmentarisch vorliegende Tetrachordum musices Cochlaeus’ lieferte er ein lateinisches Widmungsgedicht; ein weiteres steuerte der ebenfalls mit Chelidonius befreundete Willibald Pirckheimer bei.
StiB Fragm. imp. 17A und 17B: Rectoseiten.Bei dem Werk handelte sich um ein einflussreiches Schulbuch zur Kirchenmusik, das erstmals 1511 bei Johann Weißenburger in Nürnberg in den Druck kam. Es folgte eine weitere Auflage bei Johann Stuchs 1512, bevor der Druck weiterer Auflagen an Friedrich Peypus ging. Bei den vorliegenden Fragmenten handelt es sich um zwei Blatt des vierten Kapitels über die Mensuralmusik aus der dritten Auflage von 1514 bzw. der ersten aus der Offizin von Peypus. Obwohl Chelidonius das Widmungsgedicht schon ab der ersten Auflage beisteuerte, ist keine Ausgabe des Tetrachordum in der Bibliothek des Schottenstifts erhalten. Da die Trägerhandschrift Cod. 250 bereits im 15. Jahrhundert im Besitz des Schottenklosters war, dürfte die Neubindung – wohl im 19. Jahrhundert – im Stift erfolgt sein. Hierfür wurde offenbar u.a. ein in der Bibliothek vorhanden gewesenes Exemplar des Tetrachordum makuliert und zur Neubindung des mittelalterlichen Codex recycelt. Heute sind die beiden Blätter die einzige bekannte Repräsentation der dritten Auflage des Tetrachordum musices in Österreich.
StiB Fragm. imp. 17A und 17B: Versoseiten.- Verzeichnis der Drucke des 16. Jahrhunderts (VD 16) C 4403.