Wahl in der Türkei: Endet die Ära Erdogan?
newsletter via Feeds on Inoreader 2023-05-15
Summary:
Die Türkei steht heute vor einer Richtungswahl: Weiter wie gehabt mit Präsident Erdogan - oder bricht eine neue Ära an? Befürchtungen werden lauter, dass Erdogan eine mögliche Niederlage nicht akzeptiert.
Der 14. Mai, er könnte historisch werden, zumindest aus Sicht der türkischen Opposition. Angetreten ist ein Bündnis aus sechs Parteien, das kaum mehr eint als das gemeinsame Ziel: Recep Tayyip Erdogan von der Spitze des Landes zu verdrängen. Bereits das macht deutlich, was es in der Türkei braucht, um den "langen Mann", wie ihn seine Anhänger nennen, abzulösen.
Lange hatte es bei diesen Wahlen gebraucht, bis so etwas wie Wahlkampfstimmung aufkam. Vorrangig lag das am verheerenden Erdbeben Anfang Februar. Doch in den vergangenen Wochen wurde es schließlich immer lauter um die Kandidaten und ihre Parteien. Erdogan und sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu, Chef der sozialdemokratischen CHP, absolvierten beide mehrere Auftritte pro Tag in verschiedenen Städten.
Vor einem Monat erschütterten schwere Erdbeben den Südosten der Türkei. Seitdem gibt es viel Kritik. mehr
Kilicdaroglu versprach bei seinen Auftritten immer wieder, das Land zu vereinen, Hass abzubauen und die Wirtschaft in Schwung zu bringen. Vor allem aber beteuerte er seinen Willen, die Türkei zurück zu einer parlamentarischen Demokratie zu führen, weg vom Präsidialsystem, das unter Erdogan eingeführt worden war.
"Das bedeutet nicht, dass die Türkei ein demokratischer Musterstaat wird", sagt Kristian Brakel, Türkei-Experte der Heinrich-Böll-Stiftung. "Das war sie auch vor Erdogan nicht. Aber der Rechtsstaat, der in den letzten Jahren so ausgehöhlt worden ist - das ist etwas, was zurückgedreht werden wird. Und das wird einen großen Unterschied machen."
Neben dem Präsidenten wird in der Türkei auch das Parlament neu gewählt - nach dem Verhältniswahlrecht. mehr
Erdogan setzte im Wahlkampf vor allem auf teure Wahlgeschenke. So setzte er das Renteneintrittsalter herunter, weihte einen Drohnenträger, Moscheen, Schnellzüge und sogar eine Erdgaspipeline ein. Übertragen wurde das zumeist live auf zahlreichen türkischen Fernsehsendern gleichzeitig.
Die Auswertung der Online-Plattform DarkWeb Haber ergab 48 Stunden und 45 Minuten Sendefläche für Erdogan in der Zeit vom April bis zum 11. Mai, allein auf dem staatlichen Sender TRT. In der gleichen Zeit erschien Kilicdaroglu dort gerade einmal 41 Minuten.
Bei der Wahl in der Türkei könnte jungen Wählern eine entscheidende Rolle zukommen. mehr
Und dennoch liegt dieser in den jüngsten Umfragen vorn. Das Meinungsforschungsinstitut ORC, das als sehr zuverlässig gilt, veröffentlichte am Freitag seine letzten Umfrageergebnisse vor der Wahl. Kilicdaroglu führt darin mit 51,7 Prozent, Erdogan liegt mit 44,2 Prozent deutlich dahinter.
Demnach hätte der Herausforderer den Sieg bereits in der ersten Runde in der Tasche. Der Rücktritt eines der vier Kandidaten, Muharrem Ince, einst Parteifreund Kilicdaroglus, könnte diesen dabei zusätzlich unterstützen.
Dass Erdogan diesmal wackelt, liegt vor allem an der wirtschaftlichen Situation im Land. Die Inflation ist laut Opposition dreistellig, offiziell lag sie zuletzt bei 50 Prozent. Die Währung befindet sich ebenfalls auf einem Tiefpunkt, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei knapp 20 Prozent. Das Ausmaß des Erdbebens hat bei vielen Menschen die Wut auf die Regierung zusätzlich verstärkt.
Sollte Erdogan wider Erwarten gewinnen, sehen viele Beobachter eine Auswanderungswelle voraus, auch Kristian Brakel. "Ich kenne sehr viele Türkinnen und Türken, gerade junge Leute, die gut ausgebildet sind, die sagen: Das ist die letzte Chance, die ich diesem Land gebe. Wenn es weiterhin bei Erdogan bleibt, dann gehe ich weg."
20 Prozent der Menschen in der Türkei sind Kurden. Regierung und Opposition buhlen bei den Wahlen um deren Stimmen. mehr
Eine völlige Abkehr der Türkei vom Westen, wenn Erdogan an der Spitze bleibt, fürchtet Brakel hingegen nicht. "Man wird weiterhin mit Deutschland, mit der Europäischen Union und auch mit den Amerikanern ein schwieriges Verhältnis pflegen - aber ein Verhältnis, von dem man weiß, dass man es braucht, gerade aus wirtschaftlichen Gründen. Die EU bleibt der Haupthandelspartner."
Wie fair die Wahl ablaufen wird - diese Frage wird international immer wieder gestellt. In der Türkei selbst organisieren sich die Parteien mit eigenen Wahlbeobachtern, allein die Opposition stellt rund eine halbe Million.